Notizen aus Madrid von Natascha Gangl
13.August.2021, Madrid, 40 Grad. Ein Spiegelei brät sich selbst auf der Terasse. Alerta! Wer kann, soll seine Wohnung nicht verlassen. Ausreichend Wasser trinken. Immer wieder kalt duschen.
Du legst Dich auf den Boden, die Beine hoch an die Wand, der Ventilator dreht und du denkst an Propeller, denkst an Madrid von oben. An die gelb-graue Glocke Smog, die über der Stadt liegt, das vergelbte Land das sich weiter und weiter um die Stadt ausbreitet. Die Verwüstung, volle Abstinenz der Farbe Grün. Wer kann, hat die Stadt verlassen und ist auf der Suche nach einer Zukunft, nach Arbeit, am besten im Norden, am liebsten nahe Wald und Wasser. Öffne das Fenster wie ein Backrohr und spür wie die Hitze dir die Wimpern versengt. Halt den Kopf unter die Leitung, lass das kalte Wasser, das abgepumpte Wasser, das von sonstwo abgesaugte Wasser über den Nacken, den Scheitel und von der Stirn tropfen. In diese Wüste – geh – und such ein Boot.
Hör das Signalhorn das eine Muschel ist, Trommeln, der Geruch von Copal, du stehst nicht am Zocoalo in La Ciudad de Mexico, du stehst an der Puerta de Sol in Madrid, an der sich heute Orte und Zeiten überlagern, Geschichte schichtet. Am Boden auf Tüchern Opfergaben: Früchte, Blumen, Kerzen, Salz, Wasser, Erde und die Danzantes die ihren Tanz als Opfer bringen und singen: „Que florezca la luz, que florezca el amor, que florezca la paz en la tierra“ . Blühendes Licht, blühende Liebe, der Friede als Blüte der Erde.
Da wartet das Boot, steht – genau auf dem Nullkilometerstein, von dem aus sich alle Hauptstraßen Spaniens fort-sternen. Ein Boot wie ein Kindergeburtstag, frisch vom Rummelplatz, mit Lametta, mit Luftballonen, mit allen Farben des Regenbogens, mit schwarzer Fahne, mit rotem Stern: EZLN.
Mit Schildkappe, mit schwarzen FFP2 Masken und Visier treten die sieben Zapatistas an Bord, die die Überfahrt von Mexiko nach Vigo gemacht haben, el escuadron 421, gekommen, um zu zeigen, dass es Menschen gibt, dass es Land gibt, das nicht erobert wurde, das widerspenstig widerstrebt, dem Kapitalismus die Stirn bietet, seit 500 Jahren. Die Zapatistas rufen keine großen Worte, sie winken einfach freundlich von Deck und beginnen eine weitere Reise, heute auf diesem Kindergeburtstags-Boot, heute zum Plaza de Colon, Ehrenplatz des „Entdeckers“ der Amerikas. Das Boot sticht in den Verkehr, und aus allen Richtungen sammeln sich Menschen mit Masken, mit Transparenten, tragen ihre Anliegen gesammelt und folgen dem bunten Boot.
Zuvorderst steht „NO NOS CONQUISTARON“ – Wir wurden nicht erobert – und dann beginnt der Chor: „Europa escucha! Unete a la lucha“- Hör zu Europa und schließ dich dem Kampf an „Cárcel, CIE, redadas y fronteras, así se construye la riqueza europea“, mit Gefängnis, Kapitalgesellschaften, Raubzügen und Grenzen wird der Europäische Wohlstand gebaut – und dann – „Zapata vive, la lucha sigue, Zapata vive vive, la lucha sigue sigue“. Es geht von der Puerte de Sol vorbei an shops, shops, shops auf die Calle A Alcala wie „A Anti Antikapitalistas“, geht vorbei am königlichen Zollamt zu „Europa, Europa tus multinacionales estan asesinando a las lideres sociales“ – Europa, deine Konzerne ermodern die Anführer*innen des sozialen Widerstands“. Es geht vorbei an der Nationalbank und ihr wird gesungen: „la tierra no se vende, se ama y se defiende“ – die Erde verkauft man nicht, man liebt und verteidigt sie. Es geht zum Plaza de los Cibeles, der Brunnen in der Mitte des Platzes, ist der Sitz der griechischen Göttin Kybele. Da sitzt die Göttin der Erde, der Landwirtschaft, der Fruchtbarkeit auf ihrem Wagen, der ein Springbrunnen ist und wo sonst die Autos um sie im Kreis rasen – verspricht ihr heute ein Chor von hunderten Menschen: „La tierra robada, sera recuperada“ – Die geraubte Erde wird zurückgeholt und Feuer! der kolonialen Ordnung der Welt, kein Mensch ist illegal, singen sich die Kinder Europas am Palacio de Buenavista, dem Hauptquartier des Heeres vorbei. Mehr und mehr Menschen ziehen mit, den Paseo de Recoletos hoch bekommt der alte Schlager La Bamba den Text:
„Para tumbar Europa / para tumbar Europa / se necesita luchar zapatista/ luchar zapatista y anticapitalista, antirassista / yo luchare y luchare / escucha y lucha / escucha y lucha / yo no creo en fronteras / yo no creo en fronteras / yo crucare, yo crucare!“
Um Europa niederzulegen, brauchts zapatistischen Widerstand, antikapitalistisch, antirassistisch, hör und kämpf, ich glaube nicht an Grenzen, trete über, über setze …
Und da steht er dann, auf 14m Höhe, selbst 3 Meter hoch, Christoph Kolumbus aus weißem, italienischen Marmor und die Frau neben mir schreit bis sie heult: „Fue un genozidio, no fue un descubrimiento“ – Das war Genozid, keine Entdeckung. Auf dem Plaza de Colon vor dem Monumento al Descubrimiento de América, dem Denkmal für die Entdeckung Amerikas, vor drei Makroskulpturen aus Beton, 10, 18 und 20 Meter lang, mit Titeln wie „ Las profecías /die Prophezeiung“, „ La génesis /Die Genesis“ und „El descubrimiento /Die Entdeckung“ hängt heute das Zapatistische Banner.
Wir schreiben das Jahr 2021, die ganze Welt ist „entdeckt“, offen gelegt, abegriffen, ausgegriffen, ausgesaugt – die ganze Welt? Wahrscheinlich hängt genau über der Prophezeiung ein Banner auf dem steht „ZAPATISTAS“ – es sieht aus wie eine Werbung für einen Kinderfilm, zu sehen ist ein Boot und darin besonders süße Figuren, wie aus einem Anime-Film – kein Weg führt heute an der Unschuld vorbei. Die Ästhetik dieser Rebellion ist „niedlich“ … „kindisch“? Vor den überwältigenden Bildern der Umweltzerstörung und der Gewalt, ruft sie das Kleine und Freundliche an, die Kleinen von unten, die nach Leben streben: egal ihre Nationalität, Sprache, Ethnie, Ideologie, ihr Geschlecht, Alter, Größe, ihre Fahne. Diese Rebellion spricht zu den Kindern, spricht Zukunft. Das escuadron 421 tritt vor das Mikrophon – absolute Stille und in diese Stille – langsame, ruhige Worte des Dankes, Danke für das was klein erscheinen mag aber für die Zapatistas sehr groß ist, für sie, die Fremde, Unerwünschte sind in dem Land, das sie seit unzähligen Generationen bewohnen. Sie sind nicht gekommen um sich zu beschweren oder anzuklagen, denn alle teilen wir Regierungen die angestellt sind von einem verbrecherischen Kapitalismus. Sie sind hier um Samen zu tauschen, sie sind hier, denn sie wissen: Ein kleines Erdbeben, kann die Geschichte erschüttern. Sie beginnen mit einem einfachen: „Ya, Basta!“/ Es reicht! Einem Sprung in der Mauer. Sie kommen um Zuzuhören, um zu Lernen von Missverständnissen, von Widersprüchen. Denn unter den Trümmern – der Asche, dem Schlamm, den verschmutzten Gewässern, den Pandemien, der Ausbeutung, unter Verachtung und Raub, Verbrechen, Rassismus und Intoleranz – liegen hier wie da leblose Menschen begraben. Und jedes Leben ist mehr als eine Geschichte, die sich in eine Ziffer, eine Statistik, ein Vergessen verwandelt.
Diese sieben Menschen auf der Bühne fordern bedacht und ruhig etwas ein, das alle verstehen können: Leben ist mehr als Überleben. Als menschliche Wesen zu leben, bedeutet, in Freiheit zu leben. Leben ist Kunst, ist Wissenschaft, ist Freude, Tanz, ist Kampf. Zu leben, bedeutet, mit der einen oder anderen Sache nicht einverstanden zu sein, zu diskutieren, zu debattieren, sich zu konfrontieren. Es gibt jemanden oder etwas, das uns hindert zu leben, uns die Freiheit entreißt, uns betrügt, prellt, einkreist – uns beißend, einschneidend, verletzend, ja mordend unsere jeweilige Welt nimmt. Unsere Natur zerstört. Und es ist Zeit die Verantwortlichen zu suchen. Zeit für Gerechtigkeit. Jemand oder etwas, das die Quittung erhält für diesen Schmerz, der uns – Männer, Frauen, AnderE – allein lässt. Und der uns auf einer immer kleiner werdenden Insel in die Enge treibt – eine Insel, so winzig, dass nur noch das jeweilige Ich übrig bleibt. Und sogar dort auf dieser kleinen Insel – entfernt von allem und allen – werden wir gezwungen, etwas anderes zu sein – nicht das zu sein, was wir sind: Eine Frau – zum Wohlgefallen des Mannes. EinE AnderEr – vom Hetero akzeptiert. Eine Jugend – zur Zufriedenheit der Erwachsenen. Altsein – irgendwie gerade noch toleriert von der Jugend. Kinder – umkämpft von Jugendlichen, Erwachsenen und Alten. Eine Arbeitskraft – effizient und fügsam gegenüber dem Vorarbeiter. Ein Vorarbeiter – nach Geschmack des Befehlsgebers. Dieser Druck, sich in etwas zu transformieren, was wir nicht sind, hat die Form von Gewalt. Und sie ist strukturell. Das gesamte System ist konstruiert, um die Passform der Normalität aufzuzwingen. (…) Eine Maschine, die das Andere, das Differente angreift, isoliert und liquidiert. Und die Zapatistas – sie leisten Widerstand. Bleiben widerständig, rebellierend, »Nein« sagend – zur Aufzwingung. »Ja« rufend – zum Leben.
Ja. Und jetzt stehen sie da. 500 Jahre später und benennen Europa vor den übergroßen Denkmälern der Dominanz um zu „SLUMIL K’AJXEMK’OP“, Tierra Insumisa, Widerspenstige Erde, sie hebeln die Erwartung aus, rufen mit dieser Bewegung die kleinen liebevollen Gesten zusammen – und damit erscheinen sie:
Einfach machbar.
Niemand hat diesen öffentlichen Akt erwartet. Die Ratio wird ausgehebelt, vor dem poetischen Bild, das ein buntes Boot mit Zapatistas auf dem Plaza de Colon abgeben. Hier wird Freiheit vollzogen. Ein Anfang gemacht. Freundlich. Ein Ereignis gesetzt. Die Möglichkeit der Möglichkeit reanimiert und mit ihr ein Ideal von Aufrichtigkeit, von Unschuld, von glauben, was einer glaubt, sein was, einer ist. Eine kleine leere Faust, hochgestreckt auf einem bunten Boot, in heiße Luft, die Wellen schlägt … die Wellen schlägt …
Natascha Gangl ist Autorin von Theatertexten, Prosa und Essays, gangl.klingt.org