Davon wie Defensa Zapatista versucht, Esperanza den Auftrag des Zapatismus zu erklären und andere geglückte Argumentationen.
»Nun gut, somit werde ich dir etwas sehr wichtiges erklären. Aber du kannst keine Notizen machen, denn ich möchte, dass du es in deinem Kopf bewahrst. Das Notizheft lässt du eh nur irgendwo herumliegen, deinen Kopf jedoch musst du ständig mit dir herumtragen.« Defensa Zapatista bewegt sich von einer Seite zur anderen, so wie es – wie gesagt wird – der verstorbene SupMarcos tat, wenn er etwas sehr wichtiges erklärte. Esperanza sitzt unterdessen auf einem Baumstamm und vorausschauend hat sie ein Stück Plane über das feuchte Holz voller Moose, Pilze und Reisigstückchen gelegt.
»Werden wir möglicherweise den Ort schauen, an den wir mit unserem Kampf gelangen?«, gibt Defensa Zapatista von sich und zeigt mit ihren kleinen Händen in eine unbestimmte Richtung. Esperanza überlegt an einer Antwort, jedoch offensichtlich hat Defensa Zapatista lediglich eine rhetorische Frage gestellt und ist an keinerlei Antwort interessiert, sondern an den Fragen, die der ersten folgen werden. Nach Defensa Zapatista folgt sie damit der wissenschaftlichen Methode.
»Die Problema, also das Problem besteht somit nicht darin, anzukommen, sondern sich einen Weg zu schaffen. Das heißt: Wenn es keinen Weg gibt, nun, dann muss er gemacht werden. Denn wenn er nicht da ist, wie dann …« Das Mädchen fuchtelt dabei mit einer Machete herum, die wer weiß woher kam – und nach der jedoch sicherlich in irgendeiner Holzhütte gesucht wird.
»Somit – da sich die Problemstellung verändert hat – ist das Erste der Weg. Denn wenn es keinen Weg gibt, den du gehen willst, nun, dann ist das Sorgen darum überflüssig. Somit, was werden wir tun, wenn es keinen Weg gibt, den wir gehen werden?«
Esperanza antwortet genüsslich: »Wir warten, dass es aufhört zu regnen, damit wir nicht nass werden, während wir den Weg schaffen.«
Defensa Zapatista rauft sich die Haare und ruiniert sich damit die Frisur, für deren Herstellung ihre Mamas eine halbe Stunde brauchten – und ruft: »Oh, Nein!«
Esperanza überlegt und wagt sich hervor mit: »Ah, ich weiß: Wir binden dem Pedrito einen Bären auf und sagen ihm, da wo wir hingehen, gibt es Bonbons, aber es gibt noch keinen Weg, und mal sehen: Wer als erstes den Weg schafft, der kann sich mit Bonbons vollstopfen.«
Defensa Zapatista reagiert mit: »Werden wir etwa die blöden Männer um Unterstützung fragen? Niemals. Wir werden das umsetzen als Frauen, die wir sind.«
»Das ist richtig«, meint Esperanza, »denn wer weiß, vielleicht gibt es ja Schokolade.«
Defensa daraufhin: »Ja, und wer weiß: Was machen wir, wenn wir uns beim Wegmachen verirren?«
Esperanza gibt zur Antwort: »Wir schreien um Hilfe? Zünden eine Signal-Rakete und blasen in die Meeresschnecke, ins Caracol, damit sie uns im Dorf hören und kommen, um uns zu retten?«
Defensa begreift, dass Esperanza das Thema sprichwörtlich nimmt, und dabei außerdem die volle Zustimmung der Zuschauerschaft erhält. Beispielsweise schleckt sich der Gato-Perro, Katze Hund, gerade den Bart – träumend von einem Topf voller Schokolade am Ende des Regenbogens. Das einäugige Pferd spekuliert auf Mais mit Salz und auf einen mit Plastikflaschen angefüllten Topf. Calamidad versucht indessen die »Pas de Chocolat (Hin zur Schokolade!)« genannte Tanz-Choreographie, die der SupGaleano entworfen hatte und die darin besteht, »à la Rhinozeros« über den Topf herzufallen.
Elías Contreras seinerseits jedoch hat mit Beginn der ersten Fragestellung seinen Wetzstein herausgenommen, um seine doppelschneidige Machete zu schärfen.
Weiter weg trägt ein undefinierbares Wesen, einem Käfer außerordentlich ähnelnd, ein Transparent mit der Aufschrift: »Nennt mich Ismael« (1) und diskutiert währenddessen mit dem Alten Antonio die Vorteile der Bewegungslosigkeit auf festem Boden: »Nun ja, mein verehrter Queequeg (2), da ist kein weißer Wal (3), der sich dem Hafen nähern mag.« Der alte Indigene und Zapatist – unfreiwilliger Lehrer der Generation, die sich 1994 in Waffen erhob – dreht sich seine Zigarette aus Maisbättern und Tabak und hört aufmerksam den Argumenten des kleinen Insektentiers zu.
Defensa Zapatista nimmt es auf sich – wie die Wissenschaften und die Künste – sich an dem schwierigen Ort zu befinden, wo man unverstanden ist: Wie in einem Pas de deux (4) – wartend auf die Umarmung für die Pirouetten und die Stütze für einen Porté (4); so wie ein Film – gefangen in einer Film-Blechdose, wartend auf einen Blick, der ihn rettet; wie ein Hafen ohne Schiffe; wie eine Cumbia, deren Bestimmung und Ziel sich bewegende Hüften wären; wie ein konkaver Cigala ohne konvex zu sein (5); wie Luz Casal, die zum Rendezvous der versprochenen Blume (6) geht; wie Louis Lingg ohne The Bombs (7) des Punk; wie Panchito Varona den geraubten April in einem Gitarren-Akkord suchend (8); wie ein Ska-Song ohne Slam; wie ein Nuss-Eis ohne einen Sup, der ihm die Ehre gibt.
Defensa Zapatista (9) jedoch ist Abwehr aber auch Zapatista, also nichts als Widerstand und Rebellion. Hilfesuchend schaut sie zum Alten Antonio.
»Die Unwetter jedoch respektieren niemanden, ob auf dem Meer oder dem Land, ob im Himmel oder auf Erden. Bis hinzu dass sich die Eingeweiden der Erde ineinander verwirren und Menschen, Pflanzen, Tiere leiden. Ihre Farbe, Größe, Art und Weise spielen dabei keine Rolle«, sprach mit flüsternder Stimme der Alte Antonio.
Alle verbleiben im Schweigen, halb aus Respekt, halb aus Schrecken.
Der Alte Antonio fährt fort: »Die Frauen und Männer sehen zu, sich vor den Winden, den Regen, dem aufgebrochenen Boden zu flüchten und warten, dass es vorbeigeht, um nachzuschauen, was blieb und was nicht. Die Erde jedoch tut mehr, denn sie bereitet sich auf das Nachher vor; auf das, was folgt. Und in ihrem Sich schützen beginnt sie bereits zu verändern. Die Madre Tierra wartet nicht auf das Ende des Unwetters, um zu sehen, was zu tun ist, sondern bereits zuvor beginnt sie zu produzieren, aufzubauen. Darum sagen die Weisesten, das Morgen komme nicht einfach so und scheine ganz plötzlich auf, sondern luge bereits zwischen den Schatten hervor; und wer zu sehen weiß, findet das Morgen bereits in den Rissen der Nacht. Darum träumen die Mais-Frauen und Mais-Männer, wenn sie aussäen bereits von Tortilla, von Atole und Pozol (10), von Tamale und Marquesote (11). Sie sind noch nicht vorhanden, jedoch wissen sie, es wird sie geben, und dies bestimmt ihre Arbeit. Sie sehen ihr Feld und sehen gleichzeitig die Frucht, die es bringt, noch bevor der Samen den Boden berührt.
Die Mais-Männer und Mais-Frauen, wenn sie diese Welt und ihre Schmerzen betrachten, sehen dabei auch die Welt, die errichtet werden muss, und sie schaffen sich ihren Weg. Drei Blicke haben sie: Einen für das Vorher, einen für das Jetzt und einen für das, was folgt. Somit wissen sie, sie säen einen Schatz aus: den Blick.«
Defensa stimmt dem begeistert zu. Sie versteht, der Alte Antonio versteht ein Argument, welches noch nicht zu erklären ist. Zwei Generationen – unterschiedlich in Kalender und Geographie – bilden eine Brücke, auf der sich hin und her bewegt wird, es wird weggegangen und angekommen – wie auf den Wegen.
»Genau!«, das Mädchen schreit es fast heraus und schaut dabei mit Zuneigung auf den Alten.
Und fährt fort: »Wenn wir bereits wissen, wo wir gehen wollen, heißt das, wir wissen bereits, wo wir nicht gehen wollen. Somit werden wir uns mit jedem Schritt von einigen Orten entfernen und uns anderen nähern. Wir sind noch nicht angekommen, doch der Weg, den wir machen, wird uns bereits für das Ziel prägen. Wenn wir Tamales essen wollen, werden wir wohl keinen Kürbis säen.«
Die gesamte Zuhörerschaft macht verständlicherweise eine Geste des Ekels – angesichts der imaginierten fürchterlichen Kürbis-Suppe.
»Wir überstehen das Unwetter mit dem, was wir wissen. Jetzt sind wir bereits das am Vorbereiten, was folgt. Wir bereiten es bereits in einem vor. Darum muss das Wort weit getragen werden. Es ist egal, ob jemand bereits sagte, er wird nicht da sein; wichtig ist, dass das Samenkorn auf gute Erde trifft und wo es diese bereits gibt, sich entwickelt. Das heißt: unterstützen. Das ist unser Auftrag: Ein Samenkorn sein, das andere Samenkörner sucht«, urteilt Defensa Zapatista – und an Esperanza gerichtet sagt sie: »Hast du verstanden?«
Esperanza steht auf und mit all der Feierlichkeit ihrer neun Jahre antwortet sie ernst:
»Ja, klar, ich habe verstanden, dass wir natürlich alle elendiglich sterben werden.« – und fast unmittelbar fügt sie hinzu: »Aber wir werden es machen, dass es der Mühe lohnt.«
Alle klatschen Beifall.
Um Esperanzas »dass es der Mühle lohnt« zu bestärken, zieht der Alte Antonio aus seiner Morraleta, seiner gewebten Umhängetasche, eine Tüte mit kleinen Schokoladen-»Küsschen« hervor. Der Gato-Perro macht sich mit einem einzigen Tatzen-Hieb eine ganze Menge davon zu eigen. Das einäugige Pferd zieht es vor, auf seiner Plastik-Flasche weiter zu kauen.
Elías Contreras, Untersuchungskommission des EZLN, wiederholt leise: »Aber wir werden es machen, dass es der Mühe lohnt«, und sendet sein Herz und Denken aus hin zum Bruder Samir Flores und zu denen hin, die sich – lediglich mit ihrer Würde – dem lärmenden Dieb von Wasser und Leben (12) entgegenstellen – ihm, der sich hinter den Waffen des Vorarbeiters versteckt und mit seinem Wortschwall nur seinen blinden Gehorsam gegenüber dem Befehlsgeber verdeckt: Zuerst das Geld; danach das Geld; und zum Schluss das Geld. Niemals Gerechtigkeit, auch nicht Freiheit, niemals das Leben.
Das kleine Insektentier fängt an zu erzählen, wie eine Tafel Schokolade es in der sibirischen Steppe vor dem Tode bewahrt hat – als es vom Land der Sami (13) kommend – wo es Yoik-Lieder sang – auf dem Weg war nach dem Gebiet der Selkup (14), um der Zeder, dem Baum des Lebens, Ehre zu erweisen.
»Ich war da, um zu lernen. Dazu sind Reisen da. Denn es gibt Widerstände und Rebellionen, die, auch wenn sie von Kalendern und Geographien abweichen, darum nicht weniger wichtig und heldenhaft sind«, spricht es – während es mit seinen vielfachen Beinchen die Schokolade aus seinem schillernden Stanniolpapier befreit, applaudiert und eine Portion verschlingt – alles zur gleichen Zeit.
Calamidad hat ihrerseits sehr gut verstanden, dass man an das denken müsse, was folgt – und mit ihren Schokoladen verschmierten Händchen ruft sie begeistert aus: »Lasst uns Palomitas (15) spielen.«
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Aus dem zapatistischen Maritim-Terrestrischen Schulungszentrum.
Der SupGaleano – den Workshop gebend: »Vomitus Internacionalista« (16).
Mexiko, Dezember 2020.
Aus dem Notizheft des Gato-Perro: Den Schatz birgt das Andere
»Zum Ende seiner Rede schaute er mich mit seinem einzigen Auge an und sprach zu mir: «Ich habe Sie erwartet, Don Durito. Wisset, ich bin der letzte der wahrhaften Piraten, der auf dieser Erde lebt. Und ich sage »wahrhaften«, denn nun gibt es eine Unzahl an »Piraten«, die rauben, morden, zerstören, plündern von den Finanz-Zentren und großen Regierungspalästen aus – ohne mit mehr Wasser in Berührung gekommen zu sein als dem ihrer Badewannen. Hier ist Ihr Auftrag (er übergab mir ein Bündel alter Pergamente). Findet den Schatz und bringt ihn in Sicherheit. Und nun, entschuldigt mich, denn ich muss sterben.» Und beim Aussprechen der letzten Worte, ließ er seinen Kopf auf den Tisch sinken. Ja, er war tot. Der kleine Papagei hob zum Flug an – und beim aus dem Fenster Fliegen rief er: «Platz da für den Exilierten aus Mytilene! Platz da für den unehelichen Sohn Lesbos‘! Platz da für den Stolz des Ägäischen Meeres! Öffnet Eure neun Pforten, gefürchtete Hölle, denn dort wird ruhen der gefürchtete Rotbart. Er hat gefunden den, der ihm folgt. Nun ruht er, der aus dem Ozean kaum eine Träne machte. Mit dem Schwarzen Wappen wird nun der Stolz der wahrhaften Piraten segeln.»
Unter dem Fenster erstreckte sich der Hafen von Göteborg – und von Weitem war das Weinen einer Nyckelharpa, der Schlüsselfidel, zu hören …«
Don Durito de La Lacandona. Oktober 1999.
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Anmerkungen der_die Übersetzer_in:
(1) »Call me Ismael«; damit beginnt Herman Mevilles Roman Moby Dick, erschienen 1851.
(2) Queequeg, Figur aus Moby Dick, ein Wal-Harpunier aus Polynesien
(3) der weiße Wal: Gemeint ist Moby Dick aus dem gleichnamigen Roman.
(4) Pas de deux: Begriff aus dem Ballett-Tanz: Tanz zu zweit; Porté: Hier gibt die_der herumtanzende Übersetzer_in auf; es gibt im Ballett jedoch: Port de bras: »Tragen der Arme«.
(5) Diego El Cigala, spanischer Flamenco-Sänger, hier sein Lied Concavo y Convexo: https://www.youtube.com/watch?v=eGrGqT-YcB0
(6) Como la flor prometida (Wie eine versprochene Blume): Album der spanischen Sängerin Luz Casal
(7) Louis Lingg and The Bombs: Pariser Punk-Band
(8) Panchito Varona, spanischer Musiker; Quíen me ha robado el mes de abril? (Wer hat mir den Monat April geraubt?): Lied von Joaquín Sabina
(9) wörtlich: »Zapatistische Abwehr/ Verteidigung«
(10) Atole und Pozol: Getränke aus Mais-Masse
(11) Tamale: Pastete aus Maismasse, eingewickelt in Bananen- oder Maisblatt wird sie sanft geköchelt, gefüllt mit allerlei Gemüse oder Fleisch; Marquesote: süßes Brot, Art Biskuit
(12) Gemeint ist der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador.
(13) Sami: indigene Pueblos in Nordskandinavien und Russland
(14) Selkup: indigene Pueblos in Sibirien
(15) ein digitales Kinderspiel
(16) wörtlich übersetzt: »Internationalistisches Erbrechen«
Quelle: http://enlacezapatista.ezln.org.mx/2020/12/24/dritter-teil-der-auftrag/