Die Zapatistas stechen für ein Treffen mit dem „Anderen“ Europa in See
Lola Cubells, 12. Jänner 2021
Ja klar, natürlich habe ich es verstanden, dass wir alle elendiglich sterben werden (…) Aber wir werden dafür sorgen, dass es sich lohnt. Esperanza Zapatista
Während wir uns noch von dem durch die Pandemie verursachten Schock erholten, begannen die Zapatistas im Oktober 2020 mit einer sechsteiligen Kommuniqué-Serie. Sie begannen beim Letzten (Sechster Teil) und schlossen mit dem ersten Teil ab, der am 1.1. veröffentlicht wurde, am 27. Jahrestag der zapatistischen Erhebung. In diesen Kommuniqués teilen sie mit, dass sie in die fünf Kontinente navigieren werden. Der Anfang wird in Europa gemacht, um sich mit anderen Saaten, die für das Leben kämpfen zu treffen. Der ’sechste‘ Teil mit dem Titel ‚Ein Berg auf hoher See‘, schenkt uns ein Röntgenbild des Aufpralls der Pandemie auf unsere Leben und unsere Körper.
Dieses Kommuniqué hinterließ viele Fragezeichen und als einzige Gewissheit zwei Datumsangaben: sie werden im April 2021 in See stechen und nach dem Besuch verschiedener Orte des Europa VON UNTEN UND LINKS am 13. August 2021 in Madrid eintreffen.
Andere Kalender und andere Geografien
Die ZapatistInnen haben im Lauf ihres jahrzehntelangen Widerstandes grundlegende Beiträge zum kritischen Denken und antisystemischen Kämpfen geleistet, unter Vorherhebung der Lehren über den Neoliberalismus aus der Hand von Don Durito de la Lacandona. Ebenso haben die Konzeptualisierung des IV. Weltkrieges oder der Vorschlag anderer Geografien und anderer Kalender eine systemische Analyse des Kapitalismus geprägt, anhand eines lokalisierten Wissens, welches aus dem antikolonialen, antipatriarchalen und antikapitalistischen Widerstand, den der Zapatismus darstellt, hervorgegangen ist.
Das Konzept der anderen Geografien und anderer Kalender hat es ermöglicht, zu verstehen, dass es in allen Geografien und Kalendern ‚das Oben‘ gibt, als die Zeit und die Geographie der Macht; und ‚das Unten‘, als die Zeit und die Geographie der Kämpfe und Widerstände. Neben einer wirtschaftlichen und politischen Analyse haben die ZapatistInnen immer als Hauptachse des Krieges gegen die Menschheit die Auslöschung des Anderen hervorgehoben und als Ziel die Gleichheit, basierend auf der Achtung des Unterschiedes betont. Bereits 2003 warnten sie uns als sie sagten: „Dies ist das Projekt der Globalisierung: den Planeten zu einem neuen Turm von Babel zu machen.
Homogen in seiner Denkweise, seiner Kultur, seinem Muster. Hegemonisiert von denen, die nicht Recht haben sondern stark sind […] Die Vernichtung des Anderen ist eine Mode, die immer wieder auf den neuesten Stand gebracht wird“
Diese „Vernichtung des Anderen“, welche anlässlich der Kolonisierung Amerikas begann, hat viel mit der unterschiedlichen Art und Weise, Zeit und Geschichte zu verstehen, zu tun. Luis Villoro erklärte in seinem Werk Pluralistischer Staat, Pluralität der Kulturen, wie die verschiedenen Arten der Konfiguration von Zeit und Geschichte entscheidend für die Kolonisierung von Abya Yala waren. Während die SpanierInnen ein lineares Zeitkonzept verwendeten, war und ist die Zeit für die Originalvölker zyklisch. Sowohl die Azteken als auch die Kastilier versuchten, die Geschehnisse aus ihren kulturellen Rahmenbedingungen heraus zu erklären. Was die Eroberer anbelangt, so wurde alles, was aus ihrem kulturellen Rahmen nicht erklärt werden konnte, als Teufelswerk angesehen und war daher der Vernichtung würdig. Im Gegensatz dazu waren für die Azteken – laut Villoro – die Ereignisse durch eine Bedeutungsstruktur bestimmt, die einer heiligen Ordnung entspricht. Auf diese Art wurde das Unbekannte in ihre Ordnung eingefügt. Es gab einen alten Mythos welches von der Reise von Quetzalcoatl Richtung Osten erzählt und von seiner Rückkehr, um sein Königreich in Besitz zu nehmen. Daher dachte Moctezuma, Cortés sei Quetzalcóatl oder sein Gesandter.
Jetzt sagen uns die ZapatistInnen, dass sie auf dem Seeweg kommen, aber dass sie, anders als vor fünf Jahrhunderten, kommen um „ zu finden, was uns gleich macht“ und um uns zu sagen: „Dass sie uns nicht erobert haben. Dass wir Widerstand und Rebellion fortsetzen“.
2021: Ein katún des neozaptistischen Widerstandes
Die Mayas hatten eine andere Zeitmessung. Als die zapatistische bewaffnete Erhebung im Jahr 1994 stattfand, veröffentlichte der Historiker Antonio García de Léon Die Rückkehr des katún. In diesem Text erklärte er uns, dass in der alten Chronosophie der Maya die Geschichte sich in 20-Jahre-Zyklen abspielte, wofür die Maya die Bezeichnung katún verwendeten. Zwanzig Jahre vor dem zapatistischen Aufstand fand der Erste Indigene Kongress statt, der von der Diözese von San Cristóbal de Las Casas (1974) gefördert wurde. Es war das erste Mal in der Geschichte, dass sich die wichtigsten indigenen Völker von Chiapas (tseltales, tsotsiles, ch’oles und tojolabales) versammelten um über ihre Realität nachzudenken, basierend auf vier Achsen:
Land, Bildung, Gesundheit und Handel. Bei diesem ersten Treffen kam es zu einem grundlegenden Übereinkommen: Quiptic ta Lecubtesel (Unsere Stärke zur Verbesserung). Wie viele wissen, erlaubte dieses Treffen die Entstehung einer unabhängigen indigenen Bewegung in Chiapas und war auch das Samenkorn für die EZLN.
In diesem Jahr, das jetzt beginnt, sind es 20 Jahre (ein katún), dass verschiedene Ereignisse stattfanden, die einen starken Symbolgehalt für den zapatistischen Kampf und auch für die alter-globalistischen Kämpfe haben, die durch ihr Feuer und ihr Wort keimten. Vor einem katún kam ich das erste Mal nach Mexiko, zeitgleich mit dem Aufruf der EZLN zum „Marsch der Farbe der Erde“ (2001). Damit verfolgten sie eine Verfassungsreform, welche einige der grundlegenden Pakte widerspiegeln sollte, die in den Abkommen von San Andrés, unterzeichnet am 16. Februar 1996 zwischen EZLN und der mexikanischen Regierung, erzielt wurden. Aber über dieses Ziel hinaus erlaubte der Marsch dem Kommando der EZLN verschiedene Bundesstaaten zu bereisen und einen Dialog zu führen, mit der Zivilgesellschaft und mit jenen, die so wie sie unter Verachtung leiden, weil sie Die Farbe der Erde sind. Auf dem Marsch war die Präsenz der internationalen Solidarität sichtbar, durch die Tute Bianche(Weisse Overalls), eine italienische Organisation, die sich an der zapatistischen Rebellion inspirierte und für die Sicherheit der Karawane zuständig war.
Die Realität der indigenen Völker in Mexiko und Abya Yala ist weiterhin durch ihre Re-Existenz gegenüber der kapitalistischen Hydra geprägt. Jetzt sind die Gesichter andere, aber der Tod ist derselbe.
Bei ihrem Aufenthalt in Nurío (Michoacán) tagte der III. Nationale Indigene Kongress. Dort erhielt die Kommandantur der EZLN von den übrigen indigenen Völkern die Legitimierung, im Namen von allen zu sprechen. Der letzte Stopp der Reise war der Kongress der Union, wo die Kommandantin Esther damit beauftragt wurde, vor den Gesetzgebern zu sprechen. Sie sprach als Frau, Indigene und Zapatistin und sie schenkte uns eine Ansprache, welche als Referenz für die verschiedensten Feminismen gilt. Sie erklärte, dass der Kampf der indigenen Frauen nicht unvereinbar sei mit der Verteidigung ihrer eigenen Art und Weise sich zu regieren und das Leben zu verstehen und – natürlich – der Veränderung jener Bräuche, welche die Rechte der Frauen nicht respektieren. Auf diese Weise stellte ihre Stimme den kolonialen Blick auf die indigenen Kulturen in Frage, der sie als statisch oder archaisch ansieht und indigene Frauen als Opfer ihrer Kultur betrachtet und unfähig, sich zu befreien ohne sich von dieser Kultur loszusagen. Wir dürfen nicht vergessen, dass eines der gebräuchlichsten Argumente gegen die rechtliche Anerkennung der indigenen Autonomie auf der Annahme beruhte, dass die Autonomie der Indigenen die Gewalt gegen Frauen legalisiere. Comandanta Esther zeigte auf, dass der Kampf der Frauen ein zentraler Bestandteil der zapatistischen Bewegung ist, wie bei den vergangenen Internationalen Treffen „Frauen die kämpfen“, die im März 2018 und Dezember 2019 stattfanden mehr als deutlich sichtbar wurde.
Der strukturelle Rassismus von Oben verachtete erneut das indigene Wort und den indigenen Schritt. Die „indigene Konterreform“ des Jahres 2001 wurde von CNI und EZLN als eine „Verhöhnung“ interpretiert. Die Antwort darauf war der Aufruf zur Schaffung der „Autonomien ohne Erlaubnis“, welche sich in der zapatistischen Erfahrung durch die Geburt der Caracoles und der Juntas der Guten Regierung im August 2003 verwirklichte.
Auf dieser Seite des Ozeans fordert uns 2021 auch dazu auf, des katún der Ermordung von Carlo Giuliani zu gedenken. Das zapatistische Eine andere Welt ist möglich, ausgerufen beim I. Treffen gegen den Neoliberalismus und für die Menschheit in Chiapas im Jahr 1996 löste diverse Proteste aus:
Seattle, Bangkok, Washington (1999), Prag (2000). Im Jahr 2001 wurde auf dem G8-Gegengipfel in Genua (Italien) der junge Aktivist Carlo Giuliani von Agenten der carabinieri ermordet. Obwohl sein Tod unbestraft blieb, haben sie es nicht geschafft, ihn aus einem interozeanischen Wir auszulöschen, welches in den neozapatistischen Netzwerken (Xochitl Leyva) geboren wurde, die in diesen Jahrzehnten gewebt wurden. Giuliani wurde zusammen mit den Toten anderer Geographien in dem Kommuniqué genannt, in dem der Tod von SubMarcos und die Geburt des Subcomandante Galeano angekündigt wurden. Damit wurde der Name des zapatistischen Lehrers übernommen, der 2014 von einer paramilitärischen Gruppe in La Realidad ermordet wurde. Viel früher, im Jahr 2003 und anlässlich der europäischen Proteste gegen den Krieg im Irak, las die Mutter von Guiliani in Rom ein Kommuniqué der EZLN in dem Marcos das „nein zum Krieg“ als „NEIN“ für die Menschheit und gegen den Neoliberalismus analysierte. Seine Worte schienen wie eine Vorahnung eines Krieges gegen die Menschheit zu sein, der sich über den ganzen Planeten ausbreiten würde.
Angel Luis Lara sagt, dass die zapatistischen Völker „in der Haut des spoilers gelebt haben“. „Sie sagten voraus, was in den Episoden, die wir noch nicht gesehen hatten, passieren wird. Die ZapatistInnen hatten immer dieses Problem der historischen Versetzung: Sie erzählen uns seit fast zwei Jahrzehnten die Zukunft. Jetzt existiert diese Zukunft nicht mehr, denn sie ist Gegenwart geworden“.
Leben weitergeben, den Tod in die Ferne rücken
Es gibt Stimmen, die fragen, warum sie jetzt kommen, in Zeiten der
Pandemie, mit dem Schiff, zu einem Zeitpunkt der uns anscheinend dazu zwingt, uns selbst zu isolieren und neuerlich anzunehmen „There is No Alternative“. Die Antwort des Alten Antonio ist eine Botschaft an uns alle:
„Wenn die Männer und Frauen des Mais diese Welt und ihre Schmerzen sehen, sehen sie auch die Welt, die errichtet werden muss, und sie machen sich ihren Weg“. Wie bereits Immanuel Wallerstein sagte, befinden wir uns in einer „Etappe der Bifurkation oder des systemischen Chaos“, in der entscheidend sein wird, was wir von heute weg aufbauen, damit das, was kommt, ein Weltsystem sein kann, dass demokratischer und egalitärer, oder sein Gegenteil, ungleicher und zerstörerisch wird.
Ohne Zweifel handelt es sich bei der Ankunft auf dem Seeweg der
ZapatistInnen (75% der Delegation sind Frauen), zusammen mit Vertretungen von CNI und der Front der Völker zur Verteidigung des Wassers und des Landes in Morelos, Puebla und Tlaxcala (FPDT) um eine Reise in umgekehrter Richtung und hat eine enorme Bedeutung für den antikolonialen Kampf und den gemeinschaftlichen Widerstand gegen die Beraubung und Enteignung des Territoriums.
Es wird von unserer Fähigkeit zu träumen, zu hören, zu lernen, Schmerzen (mit)zu fühlen und unserer Erinnerung an Widerstand abhängen, was kommen wird.
Der 13. August 2021 markiert den 500. Jahrestages des Sturzes von Tenochtitlán und die Realität der Originalvölker in Mexiko und Abya Yala ist weiterhin durch ihre Re-Existenz gegenüber der kapitalistischen Hydra geprägt. Jetzt sind die Gesichter andere, aber der Tod ist derselbe. Als López Obrador Präsident von Mexiko wurde, führte das nicht zu einer anderen Politik gegenüber den indigenen Völkern, ganz im Gegenteil, er beschleunigte die Implementierung der Megaprojekte des Todes wie den Transisthmischen Korridor oder den Maya-Zug. An diesen Projekten bestehen große transnationale Interessen. Samir Flores, Mitglied der FPDT wurde im Februar 2019 ermordet, weil er gegen den Bau einer thermoelektrischen Anlage in seinem Territorium Widerstand leistete. Er wurde zum Symbol der Verteidigung des Lebens der Gemeinschaft, jene die nicht nur für die Gegenwart, sondern für zukünftige Generationen kämpfen.
Der Subcomandante Marcos bekräftigt, dass der Tod für die ZapatistInnen wie ein Tor ist, welches überschritten werden muss und folglich ist das Leben eine Reise hin zu diesem Tor. Der zapatistische Wagemut hat seit 1994 versucht, „dieses Tor so weit weg wie möglich zu verschieben“. Der Vorschlag des Treffens mit anderen Projekten, die auf anderen Kontinenten für das Leben kämpfen, stellt die Möglichkeit dar, diese Reise bis zum Tod, zu dem das System sie verurteilt, zu verlängern.
Das Überleben der Menschheit hängt von der Zerstörung des Kapitalismus ab
Am 1. Jänner dieses Jahres haben wir, unzählige Organisationen, Kollektive und Einzelpersonen gemeinsam Eine Erklärung für das Leben unterzeichnet. Mit dieser Erklärung wurde der erste Teil einer Serie von Kommuniqués erreicht. Und der Vorschlag der EZLN wurde von einem UNS angenommen, das viele Differenzen aufweist jedoch in einem fundamentalen Beschluss übereinstimmt: die Schmerzen der Welt sind das Ergebnis eines Systems, das nicht reformiert sondern nur zerstört werden kann. Daher werden von Juli bis Oktober 2021 zahlreiche Treffen mit den zapatistischen Delegationen auf europäischem Territorium stattfinden, um die Kämpfe Für Das Leben zu stärken.
Aus der Bedeutung der Zeit der katunes in der Maya-Philosophie schenkt uns die „umgekehrte“ Reise der zapatistischen Delegation im Jahr 2021 einen verheißungsvollen Zeitabschnitt für die antisystemischen Bewegungen. Von unserer Fähigkeit zu träumen, zu hören, zu lernen, Schmerzen (mit)zufühlen und unserer Widerstandserinnrung wird es abhängen, was kommen wird. Das indigene Mädchen Defensa Zapatista (Zapatistische Verteidigung), eine der Figuren die der Feder des Subcomandante Galeano entsprungen ist, stellt eine Frau dar, die ohne Angst aufwächst und sie ist damit beauftragt, uns herauszufordern: „Du kannst bleiben oder folgen. Einzig und allein übernimm die Verantwortung für Deine Entscheidung. Freiheit ist nicht nur die Möglichkeit, zu entscheiden, was tun und es zu tun. Freiheit bedeutet auch, die Verantwortung für das Getane und für die getroffene Entscheidung zu übernehmen“.
Lola Cubells ist Mitglied bei der Mexiko-Solidaritätsbewegung im Land Valenciá (ASMEX) und Doktorin der Philosophie und Rechtswissenschaften
Diese Textveröffentlichung erfolgte mit Erlaubnis von ElSalto, erschienen am 12.1.2021 in Desinformemonos Journalismus von Unten. Übersetzung: Christine, mit Erlaubnis von Lola.